Was passiert, wenn in Deutschland Krieg herrscht? Sollen nur Männer kämpfen?

Kaum jemand spricht über die Kriegspflicht für ukrainische Männer. Es wird Zeit, über die Rolle der Geschlechter in Zeiten des Krieges zu reden. Auch hier.

Ukraine, Charkiw: Ukrainische Soldaten während einer Trainingseinheit außerhalb von Charkiw.
Ukraine, Charkiw: Ukrainische Soldaten während einer Trainingseinheit außerhalb von Charkiw.Andrew Marienko/AP/dpa

Beim Telefonat merke ich, wie nah meiner Mutter (Jahrgang 1937) die russische Invasion in der Ukraine geht. Sie hat als Kind selbst Krieg und seine Nachwirkungen erlebt. Und wir haben Bekannte in der Ukraine. Eine davon – Alonka – hat meiner Mutter gemailt. Sie ist beim Vormarsch der russischen Soldaten mit Mann und Kind in die West-Ukraine geflüchtet. Eine Unterkunft für alle drei stünde in der Wohngegend meiner Mutter bereit. Aber Alonka will noch bleiben. Sie will nicht ohne ihren Mann nach Deutschland kommen. Der aber muss in der Ukraine bleiben und sein Vaterland verteidigen. So wie alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren. Das hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am 24. Februar angeordnet.

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Maren Kaschner
Zum Autor
Anselm Neft, geboren 1973 bei Bonn, studierte abseitige Fächer, schrieb seine Magisterarbeit über zeitgenössischen Satanismus, verschliss Jobs vom Tellerwäscher bis zum Unternehmensberater und lebt heute als freier Autor und Schriftsteller in Hamburg. Dort betreibt er den Literaturpodcast „laxbrunch“ und schreibt Artikel und Bücher. Sein neuester Roman heißt „Späte Kinder“ und ist im Rowohlt-Verlag erschienen.

Das Ausreiseverbot gilt zunächst für 90 Tage. Flüchtende Männer im entsprechenden Alter wurden nicht über die Grenzen gelassen. Manche wurde aus Zügen gezerrt und von ihren Familien getrennt. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Männer Väter sind, an psychischen Krankheiten leiden, bereits traumatisiert sind. Es zählt allein das Alter und das Geschlecht. Jemand muss bleiben und die Heimat verteidigen, so die Logik des Präsidenten und auch vieler Menschen aus der Ukraine und in anderen Ländern. Wider- oder Einsprüche dagegen bleiben aus, eine Debatte dazu findet nicht statt.

Unser Verhältnis zur Männlichkeit

Lediglich ein pazifistischer Kommentar von Gereon Asmuth in der taz und ein kurzer Artikel von Juliane Frisse auf Zeit Online äußern Bedenken und Widerwillen gegen das archaische Rollenbild. Juliane Frisse fragt bei Zeit Online: „Ist nur ein kämpfender Mann ein guter Mann?“. Sie gibt gleich selbst die Antwort: „Wie unmenschlich!“. Das Menschenrecht auf Flucht gilt in der Ukraine für eine große Bevölkerungsgruppe nicht. Es würde übrigens auch in Deutschland keineswegs gesichert gelten. Die Wehrpflicht ist aktuell nur ausgesetzt. Im Verteidigungsfall – so steht es in der Verfassung – können Männer durch den Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin zum Dienst in der Bundeswehr verpflichtet werden. Ebenfalls bis zum Alter von 60 Jahren. Allerdings müssen sie diesen Dienst nicht an der Waffe leisten, sondern können auch andere Aufgaben (zum Beispiel im Lazarett) übernehmen. Auch Frauen zwischen 18 und 55 Jahren könnten bei einer solchen „Generalmobilmachung“ in Deutschland zu Diensten im (militärischen) Gesundheitswesen verpflichtet werden.

Dass ein Verteidigungsfall vorliegt, muss in Deutschland im Bundestag mit Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen werden. Derzeit ist dieses Szenario nicht sehr wahrscheinlich, aber angesichts der Situation in der Ukraine drängt es sich auf, über unser Verhältnis zu „Männlichkeit“ nachzudenken. Tatsächlich hängt fast alles, was traditionell als männlich gilt, mit der Eignung zum Krieger zusammen: Tapferkeit, Entschlossenheit, Kampfbereitschaft, kühle Rationalität, Härte gegen sich und andere, Beschützerqualitäten, Stärke.

Wer im Falle des Krieges kämpfen soll

Genaugenommen fällt es schwer, eine angeblich typisch „männliche“ Eigenschaft zu nennen, die nicht mehr oder minder direkt mit Kampffähigkeit und Gewaltkompetenz zu tun hat. Selbst das klassische Bild des Familienernährers ist noch untergründig mit dem Jäger und Kämpfer in der Außenwelt verbunden. Entsprechend bedeutet die Erziehung vom Jungen zum Mann traditionellerweise eine zumindest annähernde Entkopplung von der Empathie mit sich und anderen. Diese wird quasi an die „fürsorgliche“ Frau outgesourced beziehungsweise weitergereicht.

Dass diese Stereotype noch durchaus wirksam und lebendig sind, haben viele junge Mütter in Deutschland während der Pandemie erlebt. Dabei war die sogenannte Care-Arbeit (also das Sich-sorgen um die Familie) schon vorher keinesfalls gleich auf Vater und Mutter verteilt. 87 Minuten betrug laut einer Studie für das Familienministerium der Gender-Care-Gap im Jahr 2017. Das heißt, Frauen waren mit 4 Stunden und 13 Minuten pro Tag deutlich länger mit Erziehungs- und Haushaltsaufgaben beschäftigt als Männer (2 Stunden und 46 Minuten).

Auch wenn sich in den letzten Jahrzehnten viel verändert hat: Fürsorge-Kompetenz ist weiterhin so eng mit Weiblichkeit verknüpft wie Gewaltkompetenz mit Männlichkeit. Nur während es um den Gender-Care- und den Gender-Pay-Gap immerhin eine Debatte gibt, ist es um den Kriegsdienst-Gap derzeit sehr still. Das könnte daran liegen, dass sich der „Mann als Opfer der Umstände“ weder mit selbstherrlich-patriarchalen Rollenbildern noch mit manchen verkürzten feministischen Positionen und den modischen Diskursen dazu verträgt. Dabei weichen wir als Gesellschaft einer unangenehmen Frage aus: Was wollen wir tun, wenn alte, völlig von ihrer Empathie entkoppelte Männer junge verblendete Männer gegen uns aufhetzen, um vieles von dem zu zerstören, was wir lieben? Wollen wir dann selbst Männer in den Kampf schicken? Oder alle Geschlechter? Oder nur die, die wollen? Oder werden wir uns der Gewalt der anderen ergeben?

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Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.